Ganz in den Farben der EUTB dekoriert war die Cafeteria im Haus der Sozialen Dienste der KBF in Reutlingen bei der Eröffnung. Die bunte Wildblumenmischung lud die Gäste ein, Inklusion mit in den Alltag zu nehmen.
Reutlingen, 6.2.2019 – Allein den richtigen Weg durch den Paragrafendschungel zu finden, fällt Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen schwer. Sie brauchen einen Lotsen an ihrer Seite. „Betroffene beraten Betroffene“: Dieses Motto prägt seit Jahrzehnten die Arbeit des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg. Folgereichtig hat der Verband gemeinsam mit dem Körperbehindertenverein Reutlingen von der Bundesregierung den Zuschlag für eine Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) in Reutlingen erhalten. Seit Dezember finden Betroffene in der hauptamtlichen Beraterin Brigitta Hermanutz eine Ansprechpartnerin, die zuhört und gemeinsam mit ihnen den richtigen Weg sucht. Am Mittwoch (6.2.2019) wurde die neue barrierefreie Beratungsstelle mit vielen Gästen aus Politik und Selbsthilfe offiziell eröffnet.
Ein kleiner Blumengruß zum Start: LVKM-Landesvorsitzender Thomas Seyfarth überreicht der hauptamtlichen Reutlinger EUTB-Beraterin Brigitta Hermanutz Blumen Foto: © Mara Sander
Seyfarth: „Die Idee einer Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung passt zu uns.“
Eine Beratung für alle Fragen rund um Teilhabe und Rehabilitation ist der Auftrag der EUTB. Diese Beratung gilt als „Herzstück“ des neuen Bundesteilhabegesetzes. Das Besondere an der EUTB ist, dass sie unabhängig ist von Trägern, die Leistungen erbringen oder bezahlen. Die Beratung ist kostenlos und ist ein zusätzliches Angebot. „Das Motto „Betroffene beraten Betroffene“ ist in unserem Landesverband seit Jahrzehnten gelebte Praxis. Die Idee einer Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung passt zu uns“, so Thomas Seyfarth, Vorsitzender des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung. „Gerade bei Umbrüchen wie beispielsweise beim Übergang von der Schule zur Arbeit, aber auch bei der Suche nach geeigneten Wohnformen oder der Gestaltung von Freizeit brauchen Menschen mit Behinderungen und ihre Familien Rat und Hilfe.“ Vorgesehen ist auch eine aufsuchende Beratung, was in einem Flächenlandkreis wie Reutlingen eine organisatorische und logistische Herausforderung ist. Der Bund fördert das neue Beratungsangebot bis Ende 2020. „Wie es dann weitergeht, ist offen.“ Seyfarth appellierte daher an die anwesenden Bundestagsabgeordneten, sich für eine nachhaltige und dauerhafte Finanzierung einzusetzen. „Dies ist notwendig, um Teilhabe zu ermöglichen.“
Donth MdB: „Ein Grund zum Feiern!“
„Ein Grund zum Feiern“, so der Bundestagsabgeordnete Michael Donth (CDU). Bundesweit werden derzeit etwa 500 solcher Beratungsstellen geschafffen. Mit 163.808,97 Euro fördert der Bund das neue Angebot in Reutlingen. „Menschen mit Behinderung dürfen ihre Rechtsansprüche nicht nur auf dem Papier haben, sondern müssen auch Kenntnis von ihren Möglichkeiten vor Ort haben.“ Vereine, Ämter und Einrichtungen informieren mit viel Engagement und Kompetenz. Doch manche Familien und Betroffene wünschten sich eine unabhängige Beratung. Daher sei das neue Angebot eine gute Ergänzung, so Donth und verwies darauf, dass Inklusion und Teilhabe fordere, dass sich die Gesellschaft an die Bedürfnisse aller Menschen anpassen muss und nicht umgekehrt.
„Betroffene beraten Betroffene“ ist ein wichtiger Baustein der EUTB-Stelle des Landesverbandes in Reutlingen. Im Dialog stellen Brigitta Hermanutz und Helga Jansons die Aufgabe der EUTB vor. Foto: © Mara Sander
Müller-Gemmeke MdB: „Inklusion ist ein Herzensanliegen.“
Für die Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke (GRÜNE) ist klar: „Inklusion ist ein Herzensanliegen.“ Ziel sei eine inklusive Gesellschaft, die die Würde aller Menschen im Mittelpunkt habe. Das Bundesteilhabegesetz ist ein „kompliziertes Regelwerk, das noch viele Fragen offen lässt, so dass Unsicherheit entsteht.“ Beispielhaft nennt Müller-Gemmeke das eingeschränkte Wunsch- und Wahlrecht oder die fehlende Assistenz in der Freizeit. „Eine Ergänzende Unabhängige Beratungsstelle bei einem Selbsthilfeverband ist besonders geeignet, Menschen mit Behinderungen auf Augenhöhe zu beraten.“ Gute Beratung brauche gute Bedingungen und daher sei eine langfristige finanzielle Absicherung notwendig.
Tatti MdB: „Bundesteilhabegesetz erfüllt noch nicht alle Anforderungen an Inklusion.“
„Das Bundesteilhabegesetz ist weit davon entfernt, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen auszugleichen“, so die Bundestagsabgeordnete Jessica Tatti (DIE LINKE). Sie kritisiert vor allem die mangelnde Barrierefreiheit und die fehlenden bedarfsgerechten einkommens- und vermögensunabhängigen Teilhabeleistungen. Kostengründe würden die volle Teilhabe verwehren. Tatti freut sich über das neue Beratungsangebot in Trägerschaft der Behindertenselbsthilfe und ruft zum Dialog auf, um Teilhabe weiterzuentwickeln.
Für musikalische Übergänge zwischen den Grußworten sorgte das Duo Zweierweg (Angelika und Matthias Bach) aus Pliezhausen Foto: © Mara Sander
Kober MdB: „Menschen mit Behinderungen sind keine Minderheit.“
„Jeder Einzelne soll eine größtmögliche Eigenständigkeit erreichen und selbstbestimmt in allen Lebenslagen teilhaben können“, nennt der Bundestagsabgeordnete Pascal Kober (FDP) das Ziel. „Was nützt es dem Einzelnen, wenn er nicht weiß, welche Hilfen es gibt und wo es diese gibt. Eine unabhängige Beratung ist wichtig. Sie gibt einen unverstellten freien Blick auf die Dinge.“ Kober machte eutlich, dass Behinderung alle angeht und jeder davon betroffen sein könnte und verwies darauf, dass in Deutschland über sieben Millionen Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung leben.
Jess: „EUTB schließt Beratungslücken.“
In Vertretung von Landrat Thomas Reumann überbrachte die Leiterin des Kreissozialamtes, Manuela Jess, die Grüße des Landkreises. Das Bundesteilhabegesetz habe einen Paradigmenwechsel eingeleitet und bilde Grundlage für individuelle Selbstbestimmung. Die Umsetzung sei eine große Herausforderung für alle. Das Motto „Nichts über uns ohne uns“ bekomme nun ein Gesicht: die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung.“ Jess verwies auf das im Landkreis Reutlingen bestehende enge Netz mit Beratung und Hilfeangeboten. „90 Prozent der Menschen mit Behinderungen können im Landkreis Reutlingen versorgt werden.“ Die EUTB biete nun die Chance, das Netzwerk noch enger zu knüpfen. Um Doppelstrukturen zu vermeiden, bedürfe es aber klarer Absprachen. Mit großem Interesse verfolge sie, wie das Konzept des Peer Counselings („Betroffene beraten Betroffene“) nun umgesetzt werde.
Das Interesse an der Eröffnung der EUTB Reutlingen war groß. Viele Gäste mit und ohne Behinderung aus dem Landkreis Reutlingen fanden den Weg ins Haus der Sozialen Dienste. Foto: © Mara Sander
Holz: „Zugänge finden, Barrieren abbauen!“
Der Körperbehindertenverein Reutlingen ist ein kleiner schlagkräftiger Selbsthilfeverein, der rein ehrenamtlich organisiert ist. „Konzepte für Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung taugen auch für andere – aber nicht umgekehrt“, so Ralf Holz, Vorsitzender des Körperbehindertenvereins Reutlingen. „Wir bieten genau das Profil, das es braucht für eine unabhängige Teilhabeberatung. Und auch ich kann meine eigene Parkinson-Erkrankung gewinnbringend in die Beratungsarbeit einbringen.“ Holz wünscht sich, dass der Bund über das Jahr 2020 hinaus die Beratung fördert. „Es wäre jammerschade, wenn das mit viel Engagement aufgebaute Beratungsangebot beendet würde. Das wäre ein fatales Signal.“
Hermanutz und Jansons: „Gut, dass es die EUTB gibt!“
Die Bandbreite der Anfragen ist groß: „Beim Ausfüllen von Anträgen helfen, eine barrierefreie Wohnung finden, einen Intensivpflegedienst finden, weil der vorherige kurzfristig gekündigt hat, eine Rehaklinik finden, die bereit ist, einen pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung aufzunehmen ...“ Seit Dezember arbeitet die Sozialpädagogin Brigitta Hermanutz in der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung. Helga Jansons engigiert sich ehrenamtlich als Peer Beraterin. Die Frau im Rollstuhl zählt Fragen auf, bei denen die EUTB helfen kann. Mut machen, wenn zum wiederholten Mal der Antrag auf einen Elektro-Rollstuhl abgelehnt wurde. Finanzierung eines Sonderfahrdienstes und der notwendigen Assistenz, um sich ehrenamtlich zu engagieren, aber auch um Freunde zu besuchen oder die Freizeit zu gestalten. „Drei Stufen vor der Wohnungstür verhindern, dass ich Freunde ohne Behinderung besuchen kann. Das gibt ein Ungleichgewicht, eine Schieflage. Freundschaft lebt vom Geben und Nehmen. Ich kann nicht gleichberechtigt geben, weil ich auf Assistenz angewiesen bin“, so Jansons. „Das frustriert.“ Oder das Beispiel Gesundheit. Wenn Helga Jansons zur Vorsorgeuntersuchung zu einem Frauenarzt will, muss sie sich ins Krankenhaus begeben, weil barrierefreie Arztpraxen fehlen. Große Hoffnungen hatte sie nun an das neue Medizinische Zentrum für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung (MZEB) der Bruderhaus Diakonie in Reutlingen gesetzt. Doch da sie „nur“ körperbehindert sei, dürfe sie dort nicht behandelt werden. „Für uns Rollifahrer ist der Arztbesuch ebenfalls kompliziert, weil wir Barrierefreiheit, Assistenz und Fahrdienst brauchen.“ Mit Blick auf die anwesenden Abgeordneten machte Jansons klar: „Alle reden von Inklusion. Das hört sich toll an. Was wir brauchen, ist echte Unterstützung im Alltag.“
Sie alle trugen mit ihrem Beitrag zur offiziellen Eröffnung der EUTB des Landesverbandes in Reutlingen bei.
V.l.n.r.: Jessica Tatti (MdB, DIE LINKE), Michael Donth (MdB, CDU), Pascal Kober (MdB, FDP), Matthias und Angelika Bach (Duo Zweierweg), Manuela Jess (Kreissozialamtsleiterin Reutlingen), Ralf Holz (Vorsitzender Körperbehindertenverein Reutlingen), Beate Müller-Gemmeke (MdB, GRÜNE), Thomas Seyfarth (Vorsitzender des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung BW), Jutta Pagel-Steidl (LVKM-Geschäftsführerin)
vorne: Helga Jansons (Peer-Beraterin), Brigitta Hermanutz (EUTB Reutlingen) Foto: © Mara Sander
INFO
Bundesweit gibt es über 500 Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatungsstellen. Alle Standorte und weitere Informationen gibt es unter www.teilhabeberatung.de
Der Weg zur EUTB Reutlingen
Brigitta Hermanutz
Erwin-Seiz-Straße 11
72764 Reutlingen
Telefon 07121 / 48 16 33
E-Mail eutb-reutlingen@lvkm-bw.de
Termine nach Vereinbarung
offene Sprechzeiten: Dienstag 9 – 12 Uhr und Donnerstag 15 – 18 Uhr
v.i.S.d.P: Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg e.V. Am Mühlkanal 25 70190 Stuttgart Telefon 0711 / 505 3989-0 Telefax 0711 / 505 3989-99 E-Mail: info@lv-koerperbehinderte-bw.de |